SzeneNeustadt - 13. Mai, 16:53
Freunde!
nun haben wir den Markstein des Jahrhunderts erreicht und die Kapitalisten mit den eigenen Händen aus unserer Mitte geprügelt. Sollen ihre Gebeine vor den Toren unserer Cafés und Clubs bleichen, dass auch noch nachkommende Generationen an deren Schandtaten erinnert werden. Schandtaten biblischen Ausmaßes - wie ihr wisst, liebe Genossen! Bezahlte Lohnarbeit, Budgetdenken, kapital-geleitetes Druckgewerbe, ideologiegeleitetes Design, kurz: materiale Produktion, manipulative Menschenbeeinflussung, Kundensuggestion etc. Teufelszeug, dass nun im Säurebad neben den großen Aschenbechern unserer Cafés und Clubs vergällt wird.
Die wahren Menschen, die Menschen, denen die Zukunft gehören wird - das sind alle, die sich mit uns gegen die Geißel des Geldes stellen, mit uns, die wir in den Morgen schauen und den Abend nicht kennen! Genossen lasst uns nicht wanken auf dem Pfad der Wahrheit. Mögen auch einige Fährnisse des Alltages noch den Cappuccino lau werden lassen, Vertreter des alten, überkommenen Systems mit ihren alten, überkommenen Forderungen nach Materie sich uns in den Weg stellen. Wir werden nicht schwanken! Nein, ruft alle aus in die Weiten, in denen die, die nach uns kommen werden, den Sinn unseres Tuns erst ganz verstehen können. Genossen! Seid Vorreiter! Genossen! Ruft in die Weite! Lasst euch nicht vom Mater einholen! Bekämpft ihn, wo ihr ihn trefft mit der uns eigenen gewaltigen Waffe: greift zum Morgenstern der ironischen Ignoranz, stoßt die Lanze des kühlen Zynismus in seine Lenden! Denn nur wir wissen, was die hektisch Unterworfenen vor unseren Cafés und Clubs nur ahnen: Mater wächst mit ihrer Angst!
Freunde! Wir haben keine Angst mehr!
Peter Laas - 27. Apr, 11:03
junger mensch, nicht mehr ganz, am tresen sitzend, dahinter, lächelt anderen entgegen, um nicht zu fragen, wer sind die? geschwiegen, es wird viel, geredet, es wird weniger, da gesagt ist alles und die wochen gleichen einander, da das wetter keine stimmung zulässt, gute zumindest. geld geht und blickt sich nicht um und kommt nicht zurück, was bewiesen ist aber einer hinterm tresen bietet sich an, um zu helfen in der not, die groß und kein ende nimmt und nicht einfach so dahergesagt ist obwohl andere für lustigkeiten bezahlen und sie bekommen. das bitten, schwer fällt es und wird unterlassen daher, mit einem biss auf die zunge und mit dem gedanken im kopf, ganz hinten: mensch, der hat's doch angeboten. es zählt die würde und ein kleines bisschen sauberkeit, wenngleich es die rasur betrifft, nur. keiner verträgt etwas mehr, auch worte werden zur last im kopf, es wird getrunken, seit wochen wird getrunken, ununterbrochen, und wenn doch, vielleicht von nahrungszuhnahme nur, wenn bezahlbar, da geld ja zum vergessen geeignet und genutzt.
junger mensch, nicht mehr ganz, schaut zu, beschwichtigt, wenn nötig, gibt rat, trotz unerfahrenheit, macht preise die retten und nickt traurig beim erblicken zerbrochener beziehungen. nutzt das wort zähre; gefunden im kreuzworträtsel, vielleicht gestern vielleicht letzte woche, unbekannt bis nachgeschlagen und muss lachen beim betrachten des rinnens der zähre, hat aber tücher parat, zum trocknen des tresens. bekannt ist dem verkäufer, jung nicht mehr ganz, was zum schnaps und zum bier greifen läßt, sich woche für woche ändert und deshalb sich gleicht seit jahren. ein rat wird mißachtet, da beide sich an etwas fesseln, was im verkäufer unverständnis hervorruft. aber das ohr, immer offen ist es, für jene, die nie lernen.
es wird platz gemacht, brav, und ohne worte die beleidigend für andere, die nicht wissen wer ihnen platz macht, beim betreten des ladens derer. sie bahnen sich den weg hindurch zum tresen, werfen blicke des mißfallens auf basebecapte und die hunde. die hunde, man läßt sie kriechen unter beine abgewinkelt beim sitzen; die hunde nutzen die wärme der waden und der heizung, die arbeitet, hochtourig, obwohl auf eins gestellt, nur. die hunde, sie stinken und erfordern alle toleranz eines verkäufers, jung nicht mehr ganz, sie wird erbracht. die hunde, der verkäufer, jung nicht mehr ganz, erträgt sie, wohlwollend vielleicht auch. beim verlassen des ladens, andere, sie atmen durch, vielleicht froh ein bier erstanden zu haben ohne kommentar sweatbeshirter, vielleicht froh, der luft, abgestanden, entkommen zu sein.
eine glasfront, sie lädt ein zum blick ins nichts, das dunkel ummantelt jedes ding, nicht gesehen werden bedeutet nichts, läßt aber spielraum, der genutzt...die glasfront, sie gibt frei den blick auf strafzettelverteilende ordnungsmenschen und läßt so für kurze zeit lachen über das pech anderer, genutzt wird jede kleinigkeit um zu vergessen...eine glasfront, sie lädt ein zum blick auf uns, gedanken derer, die vorbeigehen und hineinschauen, sie werden gemacht, nicht.
der anblick hinein, ein müder vielleicht.
genutzt auch wird die auswahl an musik, ein cash, die köpfe nicken läßt er, ein dylan sich abwenden, der verkäufer, jung nicht mehr ganz, weiß das und dreht lauter, dann wechsel zum sprechgesang, kontrast erfordert kontrast.
alles das aber nicht so schwer, ertragbar noch, gedultet, da beruhigt mit scheck am ende des monats, wenn nicht wäre im gesprochenen mit jenen die sitzen fehlende bedeutung, inhaltlosigkeit, pfützentiefe. der dichter, ganz jung nicht mehr, scheut das wort dummheit, da bekannt war vor berufsantritt die gefahr für den inhalt des dichterkopfes, scheut themenänderungen und vorschläge, scheut die folgen, die bekannt bei aussprache der wahrheit. lächeln, immer häufiger es wird vorgetäucht, aufmerksamkeit, immer häufiger sie wird vorgespielt, mit freundschaft hat das nichts zu tun.
der dichter, ganz jung nicht mehr, er vermeidet lästige drohung mit intelligenz, da andere seite des tresens anders drohen kann. die täglichen wettervorhersagen lassen alles beim alten, trübe zeiten, die zähne zusammenbeißen, hoffen auf sonnenschein und ein denkmal sein im flachbau der gedanken.
ingolf sagt: es gibt ein leben nach dem spätshop.
Stefan
SzeneNeustadt - 27. Apr, 11:02
"seltsam die straßen"
auf denen tausend zigaretten
zertreten zu stummeln, auf denen
köstlich kronkorken krachen -
dieseldusel unterm sternihimmel.
die augen
ergriffen von angreifenden plakaten, die,
so scheint es, krieg führen
unter
ein
ander und mit den häusern
die sich nichtmehr zu wehren wissen
wie jener dort im scheunendreck, dessen blut
erst in rattenmäuler und später dann aus unseren hähnen tropft -
geklärt im klärwerk und nicht!
von örtlichen behörden, die doch alles sehen wollen
und werden!
was feststeht und die doch
immer wieder in die scheiße greifen
wie klärer, die nichts klären...
"die hier wohnen"
inmitten des abzockenden kneipenkapitalismus'
inmitten hochglanzsanierter
inmitten düsterer dönerdelikatessen (die,
das muss gesagt werden, standortbedingt
schmecken)
setzen ihre schritte
teils balletthaft teils unbedacht am kot vorbei, hin
zum dreistraßenweitergeparktenauto, um
schneller zum chipjob, um schneller ans geld zu kommen.
"die hier wohnten"
und pläne hatten
küchenpläne zwar (rotwein-, bier- und jointgeschwängert)
naiv, sicher, aber PLÄNE! hatten
sitzene und setzen längst um in anderen stadtteilen
wenn nicht sogar in anderen städten
HERZLICH WILLKOMMEN IM SZENEVIERTEL!!!
begrüßt der albertplatz ankommende touristen und
erstsemester, doch
die szene, hier im stadtteil der illusionen
muss man suchen wie die inhalte in sächsischen zeitungen:
wer hier so aussieht
sieht ganz anders
wer hier so redet
redet für geld
und wer hier so tut
tut nur so.
aber dann
weiterziehend
stechen wir uns die augen aus an
durstigen disteln und rauchenden rosen, versteckt
und fast unbemerkt zwischen kamenzer und försterei
und obwohl ihnen allemal vielleicht noch ein, zwei
jährchen bleiben, schnellen, bei entdeckung,
unsere mundwinkel nach oben wie katapulte, damit,
zehn schritte später, wieder platz ist für intoleranz
und kopfschütteln und unfreundlichkeiten an der
warenausgabe oder beim schnorren nach zigaretten-
je weniger spielraum uns bleibt
je weniger spielraum wir uns lassen,
desto erwachsener werden wir, wollen wir wohl
werden...
...einschränkungen und zaunbau mit goldenen
messingschildern und ein 1000euro kinderwagen
dahinter. gefüllt. oder so.
"wo bin ich? wer? des dichters lied sei heiter!" schreibt mickel
was ich mir auch sage
um gleich darauf mein basecap zu ziehen vor
doggenrobert und lügenmarco, vor
jägimatze und lyriklinda, vor
wildsauwilly und boxenhannes, vor
torwartlutz und fahrradfalk, vor
tafelingolf und punkeringo, vor
roger rabit und dem dünnen dav, vor
scheunendieter und hebedasronny und vor
spätifritzsche und der aschenbach
die mir das alles hier erträglich machen und geschichten noch erzählen können, weil se noch was zu erzählen haben....
am morgen dann,
am tresen oder
in den armen meiner frau nur noch
skizzen, antäuschungen und silhouttenhafte erinnerungen
die nicht bleiben, wenn nicht gleich geschrieben und
aufgeklebt mit der spucke von 25 zigaretten -
unabziehbar
wie das fell eines alten rammlers...
...oder so.
Stefan
SzeneNeustadt - 27. Apr, 10:39
mein ort darf gern angesagt sein
aber nie werden
mein ort darf kein glück bringen
sondern nur scherben
mein ort darf zu weit gehen
wenn ich dableiben kann
mein ort darf so schwarz sein
dass mein herz arbeiten kann
mein ort darf zugeknöpft sein
solang er sich zeigt
mein ort darf netze auswerfen
solang nichts drin treibt
mein ort darf bestehen
und zwar immer schön drauf
mein ort der darf nehmen
und zwar alles in kauf
mein ort darf verwunden
und mit narben erinnern
weil ein ort der verwundet
wird niemals verkümmern
mein ort darf sich säubern
nur nicht so wie wir ’s kennen
mein ort darf sich schließen
und dagegen anrennen
mein ort ist bedürftig
weil er vieles gern darf
nur nie über schatten springen
die er selber nie warf
mein ort der darf lachen
obwohl er enttäuscht hat
mein ort der darf altern
und nennt sich doch neu-stadt.
Stefan
SzeneNeustadt - 27. Apr, 10:36
Damals (1992) wohnte ich in der Rothenburger, meine Arbeitsstelle war zu Fuß erreichbar, so lief ich fast jeden Tag die gleiche Strecke hin und zurück. Mit der Zeit gehörte ich auf diese Weise irgendwie zum Straßenbild. So gewöhnte man sich an meinen Anblick und ich wurde als Neuzugezogene nicht nur gegrüßt sondern auch angesprochen. Die erste Anlaufstelle war
der Gemüseladen Ecke Rothenburger- Böhmische Straße, der nicht von Vietnamesen, noch von einem richtigem Dresdner geführt wurde. Herr Opitz stand in seiner blauen Kittelschürze oft vor seinem Laden und hatte immer etwas Neues zu berichten. Manchmal kaufte ich dort ein, besonders interessant war es am Monatsanfang. Ich verstand zunächst nicht, warum der kleine Laden, wo noch Holzfässer mit Sauerkraut, Spreewaldgurken und Getränkekästen standen, immer so voll war. Herr Opitz stand vor seiner kleinen, mit einer Kasse und Waage drapierten Theke, holte immer wieder seinen Bleistift hinterm Ohr hervor und strich in einem Karoheft gewisse Eintragungen durch. Ich wurde neugierig und aufgeklärt. Hier konnte man nämlich noch anschreiben lassen. Am Monatsanfang, wenn die Kasse die Rente, oder das Arbeitslosengeld überwiesen hatte, kamen die Anschreiber ihre Schuld zu tilgen. Heute ist der Laden vergrößert worden, hier hängen auf blanken Bügeln Designerklamotten, die scheinbar so begehrenswert sind, dass der Laden schon mal überfallen wurde.
Gleich gegenüber, noch vor dem Haberland, wo heute chice Dessous im Schaufenster locken, ein Hauch von Nichts, gerade soviel Stoff, dass das Markenlabel auf jeden Fall drauf passt. Auf das Fensterbrett gestützt lehnte eine Omi aus dem Fenster. Eines Tages sprach sie mich an, ob ich ihr behilflich sein könnte, ohne meine Antwort oder Reaktion abzuwarten drückte sie mir einen 10er in die Hand (noch DM) und schickte mich in den Laden, hinter Haberland, die wüssten dort schon was ich holen soll. Also marschierte ich los, sagte der Verkäuferin, dass ich von der Omi aus dem Fenster, komme, legte den 10er auf den Tresen und bekam eine Tafel Schokolade, eine Schachtel Cabinet und ein kleines Glas Löslichen. Damit bewaffnet marschierte ich zurück, bekam einen kurzen nickenden Dank und das Fenster wurde geschlossen. Was für ein Vertrauensbeweis, spätestens da fühlte ich mich hier heimisch. Warum der 10er nicht bei Opitz eingelöst wurde, habe ich nie erfahren.
In einem anderen Fenster, Richtung Rothenburger Hof, lehnte ein älterer Mann aus dem Fenster und rauchte. Er grüßte immer freundlich, auch, wenn sein Gesicht eine tiefe Traurigkeit ausdrückte. Eines Tages, erfuhr mein Freund bei einem Schwätzchen vor dem Fenster von ihm, dass er nie mehr so rausgeht, wissen se, ich hab nur noch ehn Behn. So nannten wir, wenn wir sagen wollten, von wem wir sprachen, den Mann fast zärtlich ehn Behn..
Anfang der 90iger gab es noch enthusiastische Pläne, Fördergelder aus unergründbaren Töpfen, es mögen die Landschaften erblühen. So schlugen wir unserer Vermieterin vor, Gelder für die Umgestaltung des Hinterhofes zu beantragen, Entkernung war das Zauberwort. Schon bald ging es los, die alten, baufälligen Schuppen, Hinterhofklos und Verschläge wurden abgerissen und so konnten wir hier mitten in der Neustadt einen idyllischen Garten anlegen.
Es wurde ein riesiges Loch gebuddelt ein Teich mit Goldfischen angelegt. Wir schufteten, wie besessen. Heute noch ist es ein Zaubergarten, auch wenn etwas ungepflegt und wild geworden. Wir hatten eine Blumenwiese gesät, Blumenbeete ausgebuddelt, blühende Kletterpflanzen die Mauern hoch wuchern lassen und fühlten uns sauwohl. Bis das Haus gegenüber saniert wurde. Dann war es mit der Idylle vorbei. Das Haus bekam Balkone, die auf „unsere Mauer“ aufgestützt wurden. Wer das genehmigt hat? Die Mieter zogen ein, manche benutzen unseren Garten nicht nur um leere Flaschen zu entsorgen. Nun waren wir nicht mehr allein. Die Lärmbelästigung wurde ein wichtiger, aber nicht einziger Grund, dass wir die Oase nach einiger Zeit verließen. Selbst wenn man leise redete hallte es sehr laut. Ich konnte von meinem Bett aus, das ganze Fernsehprogramm, das die Nachbarn guckten mitverfolgen, bis spät in die Nacht. Stolz bin ich schon, wenn ich die Böhmische Straße entlang laufe, auf Höhe Spielplatz den von uns gepflanzten Baum über die Mauer rausragen sehe, jedes Jahr ein Stückchen mehr. In dieser Zeit wurde auch das Hinterhaus daneben saniert. Bevor es losging mussten auch hier alte, baufällige Gebäude entfernt und entkernt werden. An einem der Gebäude befand sich ein recht hoher, schiefer Schornstein. Die Ziegelfugen klafften auf, er hatte seitlich eine richtige Beule. Wir beobachteten gespannt aus unserem Küchenfester, wie lange der noch so hält. Er hielt, bis die Bauarbeiter kamen, zu faul um ein Gerüst aufzubauen, beschlossen sie den einfach so abzutragen. Vielleicht rüttelten sie dran, möge er von selbst fallen, auf jeden Fall fiel er dann auch. Die einzelnen Ziegeln und große Teile mitten in unseren Teich. Mein damaliger Freund flippte aus, es hätte ja sonst was passieren können, er lief wütend gleich rüber. Die Baubären kamen nun zu uns rüber um sich das Malheur anzusehen. Mit gesenkten Köpfen tuschelten sie vor sich hin. Auf einen wurde mit dem Finger gezeigt. Der ging ein Stück auf die Seite und – entkleidete sich wortlos. Da stand er, in seiner einst weißen Unterhose mit blauen Mustern da, bleich, bierbäuchig, auf seiner rosigen Brust kringelten sich paar rötliche Haare. Furchtbar verlegen sprang er in unseren Teich und holte nach und nach die Schornsteinbrocken raus. Die Goldfische tauchten ab.
Ich zog mehrmals um, aber immer bin ich in der Neustadt hängen geblieben. Eine weitere Idylle fand ich in der Prießnitzstraße, Hinterhaus, die Prießnitz schlängelte sich direkt am Haus vorbei. Wenn ich es gemocht hätte, hätte ich aus dem Schlafzimmerfester angeln können. Mit bloßem Auge in dem klarem Wasser und hellsandigem Untergrund konnte man die Forellen vorbeischwimmen sehen. Diese exponierte Lage wurde jedoch zum Verhängnis. August 2002, die Flut verschluckt Teile der Stadt und auch in der Neustadt spielt sich Dramatisches ab. Die Elbe kann das Wasser längst nicht mehr aufnehmen und drückt in die Prießnitz zurück, das Grundwasser drückt nach oben. Am Morgen sehe ich, wie die Nachbarn ringsherum mit Sandsäcken anrücken. Kurzer Zeit später wohne ich nicht mehr am Bach, sondern an einem See. Das Haus wo ich wohne steht als einziges etwas höher als die anderen, ich fühle mich sicher im ersten Stock. Gleich gegenüber befand sich eine Schrebergartenanlage, die mir soviel angenehme Grillgerüche und filmreife Szenen der Familiengartenfeste, oder des rührigen Umtriebs im Frühjahr bot. Die Lauben standen im Wasser, am Abend bis zu den Fenstern hoch. Am frühen Morgen sind sie teilweise einfach weg! Ich kann es nicht fassen, nur die Dächer schauen aus dem Fenster. Jetzt bin ich ein Leuchtturmwärter und muss mit ansehen, wie die Nachbarn ihr Hab und Gut verlieren. Viele geben den Kampf auf, retten mit vereinten Kräften das Wichtigste aus den Wohnungen und ziehen ab. Der Strom ist längst weg, meine Freundin, die im Trockenen wohnt versorgt mich morgens mit Kaffee in der Thermoskanne, abends darf ich bei ihr duschen. Meinen Wachposten wage ich nicht zu verlassen. Abends nach dem Duschen gehe ich nach Hause, biege in meine Straße ab und entdecke eine faszinierende Stimmung. Es ist sehr dunkel, kein Straßenlicht und kein Licht aus den Wohnungen. Die Nachbarn stellten ihre Tische und Stühle auf die Straße, viele Kerzen brannten auf den Tischen, die Leute teilten ihr Essen und ihr gemeinsames Schicksal in einer feierlichen Stimmung miteinander. Es war ein leises Murmeln zu hören, obwohl recht viele so zusammen saßen. Als das Wasser abzog blieb der Schlamm. Die gemeinsamen Aufräumarbeiten begannen, wir halfen alle mit. Tonnenweise wurde das verschlammte Zeug aus den Kellern und Wohnungen zu den bereit gestellten Containern geschleppt. Viele entrümpelten sich auf diese Weise kostenlos. Mein großer Verlust war der im Keller deponierter und gut gefühlter Gefrierschrank. Besonders hart traf mich, dass ich mein Weinvorrat, waren paar gute Tröpfchen dabei, auch entsorgen musste. Der Weißwein sah irgendwie trüb aus. Froh bin ich immer noch über meine zahlreichen Geschäftsakten, die ich vorschriftsmäßig noch hätte paar Jahre bunkern müssen, jetzt bin ich die Altlast los geworden. Für alle Fälle wurden die schlammigen Ordner, die auf das Doppelte angeschwollen waren und sehr schwer wurden, fotografiert.
Als ich hier, in der Timaeusstrasse einzog wohnten im Erdgeschoß links und rechts, zwei alte, rüstige Damen. An einem Tag stand die Dame links auf ihrem Balkon und berichtete mir, dass ihre Nachbarin schon ganz schön plämm, plämm geworden ist. Kurz darauf traf ich die rechte Dame, die mir über die Demenz der Alten von links berichtete. Die Linke gab mal zu, dass sie schon etwas mit dem Goppe hatte und deshalb so stramm spazieren gehe, die Luft tut dem Gehirne gut, sagte ihr der Hausarzt. Unermüdlich und mit zäher Ausdauer lief sie wenigstens mal um den Block. Wie oft musste ich mir geduldig ein und die gleichen Geschichten anhören, gespickt mit einem Satz aus irgendeinem Gedicht. Wenn es windig war, gab sie von sich: der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Am Briefkasten angetroffen, lachte sie mich an, kichernd mit roten Bäckchen sagte sie, dass ihr Liebster, der Böser, mal wieder nicht geschrieben hätte. Eines Tages traf ich ihre Verwandten im Hausflur, sie holten ihre Sachen, zuvor wurde sie selbst zu ihnen abgeholt, sie war nicht mehr in der Lage sich selbst zu versorgen.
Die rechte Dame wurde immer gebrechlicher, sie weigerte sich jedoch standhaft in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Es wurde dramatisch, sie schrie manchmal so laut, dass wir Nachbarn den Notarzt riefen. Der musste jedoch erst die Polizei holen, da sie nicht aufmachte. Die Polizei brach über den Balkon in die Wohnung ein, nun konnte der Notarzt ihr helfen. Ich glaube, dass sie geistig nicht mehr in der Lage war für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und verweigerte jegliche Hilfe. Ohne ihre Unterschrift konnte man sie ja nicht mit Gewalt in ein Heim bringen. So liegt sie heute immer noch in ihrer Wohnung. Sie schreit nicht mehr. Ruhig gestellt wird sie dreimal täglich von einem Pflegedienst versorgt, das Essen auf Rädern holt die Schwester mit rein. Inzwischen in der Wohnung der linken Dame zog ein junges Pärchen ein und wir bekamen so ein zweites Baby in unserem Haus. Oben links im Dachgeschoß kam neulich das dritte Baby auf die Welt. Der Kreislauf des Lebens.
Karolina
SzeneNeustadt - 27. Apr, 10:23
Schreibt eine Szene für das entstehende Neustadt - Theaterstück!
Die Auswertung unserer Umfrage hat ergeben, dass die Mehrheit der Neustädter ihr Viertel mit seiner spezifischen Geschichte, seinen Potentialen und trotz einiger Probleme positiv beleuchtet sehen will. Im Mittelpunkt steht immer wieder die Auseinandersetzung mit dem veränderten Flair der Neustadt, die zwar den Reiz des Alternativen und Bunten nicht eingebüßt hat, aber oft vom Image als Kneipen- und Partyviertel überrollt wird.
Gewünscht wird ein humorvoll-groteskes, zeitübergreifend erzähltes und gesellschaftskritisch-politisches Theaterstück. Schreibt also eine Szene mit maximal 5 Figuren und einer Länge von bis zu 10 Seiten! Auf unsere Webseite www.szeneneustadt.de stellen wir einen Pool von Figuren und Themenfeldern zusammen, die sich in Auswertung der Fragebögen ergaben und aus denen die Autoren auswählen können. Für alle, denen dieser Rahmen zu eng ist: Wir freuen uns auch über jeden anderen Beitrag wie Monologe, Erinnerungen, Gedichte, Lieder und kleine Erzählungen.
Jeder in die Stückfassung aufgenommene Text wird mit 100 € honoriert.
Das Kleingedruckte:
Mit der Abgabe eines Textes erklären sich die Teilnehmer damit einverstanden, dass dieser im Rahmen des Projektes verwendet und ggf. verändert wird. Insbesondere sind sie einverstanden, dass ihr Text öffentlich gelesen, aufgeführt und in unserer Dokumentation abgedruckt wird.
Eine Jury aus beteiligten Künstlern und Publikum wird die Auswahl der Texte für das Stück treffen.
Die interessantesten Beiträge werden in unsere Dokumentation zum Gesamtprojekt aufgenommen und deren Autoren erhalten je zwei kostenlose Belegexemplare.
Sie dürfen ihre Autorenschaft gern durch ein Pseudonym verbergen. Bei der Abgabe des Textes bitten wir jedoch, uns Ihren Namen und einen Kontakt (Adresse, Mail oder Telefonnummer) anzugeben. Anonyme Einreichungen können wir nicht berücksichtigen.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
SzeneNeustadt - 1. Apr, 09:02