Aus der Nachbarschaft einer Neustadtbewohnrin
Damals (1992) wohnte ich in der Rothenburger, meine Arbeitsstelle war zu Fuß erreichbar, so lief ich fast jeden Tag die gleiche Strecke hin und zurück. Mit der Zeit gehörte ich auf diese Weise irgendwie zum Straßenbild. So gewöhnte man sich an meinen Anblick und ich wurde als Neuzugezogene nicht nur gegrüßt sondern auch angesprochen. Die erste Anlaufstelle war
der Gemüseladen Ecke Rothenburger- Böhmische Straße, der nicht von Vietnamesen, noch von einem richtigem Dresdner geführt wurde. Herr Opitz stand in seiner blauen Kittelschürze oft vor seinem Laden und hatte immer etwas Neues zu berichten. Manchmal kaufte ich dort ein, besonders interessant war es am Monatsanfang. Ich verstand zunächst nicht, warum der kleine Laden, wo noch Holzfässer mit Sauerkraut, Spreewaldgurken und Getränkekästen standen, immer so voll war. Herr Opitz stand vor seiner kleinen, mit einer Kasse und Waage drapierten Theke, holte immer wieder seinen Bleistift hinterm Ohr hervor und strich in einem Karoheft gewisse Eintragungen durch. Ich wurde neugierig und aufgeklärt. Hier konnte man nämlich noch anschreiben lassen. Am Monatsanfang, wenn die Kasse die Rente, oder das Arbeitslosengeld überwiesen hatte, kamen die Anschreiber ihre Schuld zu tilgen. Heute ist der Laden vergrößert worden, hier hängen auf blanken Bügeln Designerklamotten, die scheinbar so begehrenswert sind, dass der Laden schon mal überfallen wurde.
Gleich gegenüber, noch vor dem Haberland, wo heute chice Dessous im Schaufenster locken, ein Hauch von Nichts, gerade soviel Stoff, dass das Markenlabel auf jeden Fall drauf passt. Auf das Fensterbrett gestützt lehnte eine Omi aus dem Fenster. Eines Tages sprach sie mich an, ob ich ihr behilflich sein könnte, ohne meine Antwort oder Reaktion abzuwarten drückte sie mir einen 10er in die Hand (noch DM) und schickte mich in den Laden, hinter Haberland, die wüssten dort schon was ich holen soll. Also marschierte ich los, sagte der Verkäuferin, dass ich von der Omi aus dem Fenster, komme, legte den 10er auf den Tresen und bekam eine Tafel Schokolade, eine Schachtel Cabinet und ein kleines Glas Löslichen. Damit bewaffnet marschierte ich zurück, bekam einen kurzen nickenden Dank und das Fenster wurde geschlossen. Was für ein Vertrauensbeweis, spätestens da fühlte ich mich hier heimisch. Warum der 10er nicht bei Opitz eingelöst wurde, habe ich nie erfahren.
In einem anderen Fenster, Richtung Rothenburger Hof, lehnte ein älterer Mann aus dem Fenster und rauchte. Er grüßte immer freundlich, auch, wenn sein Gesicht eine tiefe Traurigkeit ausdrückte. Eines Tages, erfuhr mein Freund bei einem Schwätzchen vor dem Fenster von ihm, dass er nie mehr so rausgeht, wissen se, ich hab nur noch ehn Behn. So nannten wir, wenn wir sagen wollten, von wem wir sprachen, den Mann fast zärtlich ehn Behn..
Anfang der 90iger gab es noch enthusiastische Pläne, Fördergelder aus unergründbaren Töpfen, es mögen die Landschaften erblühen. So schlugen wir unserer Vermieterin vor, Gelder für die Umgestaltung des Hinterhofes zu beantragen, Entkernung war das Zauberwort. Schon bald ging es los, die alten, baufälligen Schuppen, Hinterhofklos und Verschläge wurden abgerissen und so konnten wir hier mitten in der Neustadt einen idyllischen Garten anlegen.
Es wurde ein riesiges Loch gebuddelt ein Teich mit Goldfischen angelegt. Wir schufteten, wie besessen. Heute noch ist es ein Zaubergarten, auch wenn etwas ungepflegt und wild geworden. Wir hatten eine Blumenwiese gesät, Blumenbeete ausgebuddelt, blühende Kletterpflanzen die Mauern hoch wuchern lassen und fühlten uns sauwohl. Bis das Haus gegenüber saniert wurde. Dann war es mit der Idylle vorbei. Das Haus bekam Balkone, die auf „unsere Mauer“ aufgestützt wurden. Wer das genehmigt hat? Die Mieter zogen ein, manche benutzen unseren Garten nicht nur um leere Flaschen zu entsorgen. Nun waren wir nicht mehr allein. Die Lärmbelästigung wurde ein wichtiger, aber nicht einziger Grund, dass wir die Oase nach einiger Zeit verließen. Selbst wenn man leise redete hallte es sehr laut. Ich konnte von meinem Bett aus, das ganze Fernsehprogramm, das die Nachbarn guckten mitverfolgen, bis spät in die Nacht. Stolz bin ich schon, wenn ich die Böhmische Straße entlang laufe, auf Höhe Spielplatz den von uns gepflanzten Baum über die Mauer rausragen sehe, jedes Jahr ein Stückchen mehr. In dieser Zeit wurde auch das Hinterhaus daneben saniert. Bevor es losging mussten auch hier alte, baufällige Gebäude entfernt und entkernt werden. An einem der Gebäude befand sich ein recht hoher, schiefer Schornstein. Die Ziegelfugen klafften auf, er hatte seitlich eine richtige Beule. Wir beobachteten gespannt aus unserem Küchenfester, wie lange der noch so hält. Er hielt, bis die Bauarbeiter kamen, zu faul um ein Gerüst aufzubauen, beschlossen sie den einfach so abzutragen. Vielleicht rüttelten sie dran, möge er von selbst fallen, auf jeden Fall fiel er dann auch. Die einzelnen Ziegeln und große Teile mitten in unseren Teich. Mein damaliger Freund flippte aus, es hätte ja sonst was passieren können, er lief wütend gleich rüber. Die Baubären kamen nun zu uns rüber um sich das Malheur anzusehen. Mit gesenkten Köpfen tuschelten sie vor sich hin. Auf einen wurde mit dem Finger gezeigt. Der ging ein Stück auf die Seite und – entkleidete sich wortlos. Da stand er, in seiner einst weißen Unterhose mit blauen Mustern da, bleich, bierbäuchig, auf seiner rosigen Brust kringelten sich paar rötliche Haare. Furchtbar verlegen sprang er in unseren Teich und holte nach und nach die Schornsteinbrocken raus. Die Goldfische tauchten ab.
Ich zog mehrmals um, aber immer bin ich in der Neustadt hängen geblieben. Eine weitere Idylle fand ich in der Prießnitzstraße, Hinterhaus, die Prießnitz schlängelte sich direkt am Haus vorbei. Wenn ich es gemocht hätte, hätte ich aus dem Schlafzimmerfester angeln können. Mit bloßem Auge in dem klarem Wasser und hellsandigem Untergrund konnte man die Forellen vorbeischwimmen sehen. Diese exponierte Lage wurde jedoch zum Verhängnis. August 2002, die Flut verschluckt Teile der Stadt und auch in der Neustadt spielt sich Dramatisches ab. Die Elbe kann das Wasser längst nicht mehr aufnehmen und drückt in die Prießnitz zurück, das Grundwasser drückt nach oben. Am Morgen sehe ich, wie die Nachbarn ringsherum mit Sandsäcken anrücken. Kurzer Zeit später wohne ich nicht mehr am Bach, sondern an einem See. Das Haus wo ich wohne steht als einziges etwas höher als die anderen, ich fühle mich sicher im ersten Stock. Gleich gegenüber befand sich eine Schrebergartenanlage, die mir soviel angenehme Grillgerüche und filmreife Szenen der Familiengartenfeste, oder des rührigen Umtriebs im Frühjahr bot. Die Lauben standen im Wasser, am Abend bis zu den Fenstern hoch. Am frühen Morgen sind sie teilweise einfach weg! Ich kann es nicht fassen, nur die Dächer schauen aus dem Fenster. Jetzt bin ich ein Leuchtturmwärter und muss mit ansehen, wie die Nachbarn ihr Hab und Gut verlieren. Viele geben den Kampf auf, retten mit vereinten Kräften das Wichtigste aus den Wohnungen und ziehen ab. Der Strom ist längst weg, meine Freundin, die im Trockenen wohnt versorgt mich morgens mit Kaffee in der Thermoskanne, abends darf ich bei ihr duschen. Meinen Wachposten wage ich nicht zu verlassen. Abends nach dem Duschen gehe ich nach Hause, biege in meine Straße ab und entdecke eine faszinierende Stimmung. Es ist sehr dunkel, kein Straßenlicht und kein Licht aus den Wohnungen. Die Nachbarn stellten ihre Tische und Stühle auf die Straße, viele Kerzen brannten auf den Tischen, die Leute teilten ihr Essen und ihr gemeinsames Schicksal in einer feierlichen Stimmung miteinander. Es war ein leises Murmeln zu hören, obwohl recht viele so zusammen saßen. Als das Wasser abzog blieb der Schlamm. Die gemeinsamen Aufräumarbeiten begannen, wir halfen alle mit. Tonnenweise wurde das verschlammte Zeug aus den Kellern und Wohnungen zu den bereit gestellten Containern geschleppt. Viele entrümpelten sich auf diese Weise kostenlos. Mein großer Verlust war der im Keller deponierter und gut gefühlter Gefrierschrank. Besonders hart traf mich, dass ich mein Weinvorrat, waren paar gute Tröpfchen dabei, auch entsorgen musste. Der Weißwein sah irgendwie trüb aus. Froh bin ich immer noch über meine zahlreichen Geschäftsakten, die ich vorschriftsmäßig noch hätte paar Jahre bunkern müssen, jetzt bin ich die Altlast los geworden. Für alle Fälle wurden die schlammigen Ordner, die auf das Doppelte angeschwollen waren und sehr schwer wurden, fotografiert.
Als ich hier, in der Timaeusstrasse einzog wohnten im Erdgeschoß links und rechts, zwei alte, rüstige Damen. An einem Tag stand die Dame links auf ihrem Balkon und berichtete mir, dass ihre Nachbarin schon ganz schön plämm, plämm geworden ist. Kurz darauf traf ich die rechte Dame, die mir über die Demenz der Alten von links berichtete. Die Linke gab mal zu, dass sie schon etwas mit dem Goppe hatte und deshalb so stramm spazieren gehe, die Luft tut dem Gehirne gut, sagte ihr der Hausarzt. Unermüdlich und mit zäher Ausdauer lief sie wenigstens mal um den Block. Wie oft musste ich mir geduldig ein und die gleichen Geschichten anhören, gespickt mit einem Satz aus irgendeinem Gedicht. Wenn es windig war, gab sie von sich: der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Am Briefkasten angetroffen, lachte sie mich an, kichernd mit roten Bäckchen sagte sie, dass ihr Liebster, der Böser, mal wieder nicht geschrieben hätte. Eines Tages traf ich ihre Verwandten im Hausflur, sie holten ihre Sachen, zuvor wurde sie selbst zu ihnen abgeholt, sie war nicht mehr in der Lage sich selbst zu versorgen.
Die rechte Dame wurde immer gebrechlicher, sie weigerte sich jedoch standhaft in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Es wurde dramatisch, sie schrie manchmal so laut, dass wir Nachbarn den Notarzt riefen. Der musste jedoch erst die Polizei holen, da sie nicht aufmachte. Die Polizei brach über den Balkon in die Wohnung ein, nun konnte der Notarzt ihr helfen. Ich glaube, dass sie geistig nicht mehr in der Lage war für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und verweigerte jegliche Hilfe. Ohne ihre Unterschrift konnte man sie ja nicht mit Gewalt in ein Heim bringen. So liegt sie heute immer noch in ihrer Wohnung. Sie schreit nicht mehr. Ruhig gestellt wird sie dreimal täglich von einem Pflegedienst versorgt, das Essen auf Rädern holt die Schwester mit rein. Inzwischen in der Wohnung der linken Dame zog ein junges Pärchen ein und wir bekamen so ein zweites Baby in unserem Haus. Oben links im Dachgeschoß kam neulich das dritte Baby auf die Welt. Der Kreislauf des Lebens.
Karolina
der Gemüseladen Ecke Rothenburger- Böhmische Straße, der nicht von Vietnamesen, noch von einem richtigem Dresdner geführt wurde. Herr Opitz stand in seiner blauen Kittelschürze oft vor seinem Laden und hatte immer etwas Neues zu berichten. Manchmal kaufte ich dort ein, besonders interessant war es am Monatsanfang. Ich verstand zunächst nicht, warum der kleine Laden, wo noch Holzfässer mit Sauerkraut, Spreewaldgurken und Getränkekästen standen, immer so voll war. Herr Opitz stand vor seiner kleinen, mit einer Kasse und Waage drapierten Theke, holte immer wieder seinen Bleistift hinterm Ohr hervor und strich in einem Karoheft gewisse Eintragungen durch. Ich wurde neugierig und aufgeklärt. Hier konnte man nämlich noch anschreiben lassen. Am Monatsanfang, wenn die Kasse die Rente, oder das Arbeitslosengeld überwiesen hatte, kamen die Anschreiber ihre Schuld zu tilgen. Heute ist der Laden vergrößert worden, hier hängen auf blanken Bügeln Designerklamotten, die scheinbar so begehrenswert sind, dass der Laden schon mal überfallen wurde.
Gleich gegenüber, noch vor dem Haberland, wo heute chice Dessous im Schaufenster locken, ein Hauch von Nichts, gerade soviel Stoff, dass das Markenlabel auf jeden Fall drauf passt. Auf das Fensterbrett gestützt lehnte eine Omi aus dem Fenster. Eines Tages sprach sie mich an, ob ich ihr behilflich sein könnte, ohne meine Antwort oder Reaktion abzuwarten drückte sie mir einen 10er in die Hand (noch DM) und schickte mich in den Laden, hinter Haberland, die wüssten dort schon was ich holen soll. Also marschierte ich los, sagte der Verkäuferin, dass ich von der Omi aus dem Fenster, komme, legte den 10er auf den Tresen und bekam eine Tafel Schokolade, eine Schachtel Cabinet und ein kleines Glas Löslichen. Damit bewaffnet marschierte ich zurück, bekam einen kurzen nickenden Dank und das Fenster wurde geschlossen. Was für ein Vertrauensbeweis, spätestens da fühlte ich mich hier heimisch. Warum der 10er nicht bei Opitz eingelöst wurde, habe ich nie erfahren.
In einem anderen Fenster, Richtung Rothenburger Hof, lehnte ein älterer Mann aus dem Fenster und rauchte. Er grüßte immer freundlich, auch, wenn sein Gesicht eine tiefe Traurigkeit ausdrückte. Eines Tages, erfuhr mein Freund bei einem Schwätzchen vor dem Fenster von ihm, dass er nie mehr so rausgeht, wissen se, ich hab nur noch ehn Behn. So nannten wir, wenn wir sagen wollten, von wem wir sprachen, den Mann fast zärtlich ehn Behn..
Anfang der 90iger gab es noch enthusiastische Pläne, Fördergelder aus unergründbaren Töpfen, es mögen die Landschaften erblühen. So schlugen wir unserer Vermieterin vor, Gelder für die Umgestaltung des Hinterhofes zu beantragen, Entkernung war das Zauberwort. Schon bald ging es los, die alten, baufälligen Schuppen, Hinterhofklos und Verschläge wurden abgerissen und so konnten wir hier mitten in der Neustadt einen idyllischen Garten anlegen.
Es wurde ein riesiges Loch gebuddelt ein Teich mit Goldfischen angelegt. Wir schufteten, wie besessen. Heute noch ist es ein Zaubergarten, auch wenn etwas ungepflegt und wild geworden. Wir hatten eine Blumenwiese gesät, Blumenbeete ausgebuddelt, blühende Kletterpflanzen die Mauern hoch wuchern lassen und fühlten uns sauwohl. Bis das Haus gegenüber saniert wurde. Dann war es mit der Idylle vorbei. Das Haus bekam Balkone, die auf „unsere Mauer“ aufgestützt wurden. Wer das genehmigt hat? Die Mieter zogen ein, manche benutzen unseren Garten nicht nur um leere Flaschen zu entsorgen. Nun waren wir nicht mehr allein. Die Lärmbelästigung wurde ein wichtiger, aber nicht einziger Grund, dass wir die Oase nach einiger Zeit verließen. Selbst wenn man leise redete hallte es sehr laut. Ich konnte von meinem Bett aus, das ganze Fernsehprogramm, das die Nachbarn guckten mitverfolgen, bis spät in die Nacht. Stolz bin ich schon, wenn ich die Böhmische Straße entlang laufe, auf Höhe Spielplatz den von uns gepflanzten Baum über die Mauer rausragen sehe, jedes Jahr ein Stückchen mehr. In dieser Zeit wurde auch das Hinterhaus daneben saniert. Bevor es losging mussten auch hier alte, baufällige Gebäude entfernt und entkernt werden. An einem der Gebäude befand sich ein recht hoher, schiefer Schornstein. Die Ziegelfugen klafften auf, er hatte seitlich eine richtige Beule. Wir beobachteten gespannt aus unserem Küchenfester, wie lange der noch so hält. Er hielt, bis die Bauarbeiter kamen, zu faul um ein Gerüst aufzubauen, beschlossen sie den einfach so abzutragen. Vielleicht rüttelten sie dran, möge er von selbst fallen, auf jeden Fall fiel er dann auch. Die einzelnen Ziegeln und große Teile mitten in unseren Teich. Mein damaliger Freund flippte aus, es hätte ja sonst was passieren können, er lief wütend gleich rüber. Die Baubären kamen nun zu uns rüber um sich das Malheur anzusehen. Mit gesenkten Köpfen tuschelten sie vor sich hin. Auf einen wurde mit dem Finger gezeigt. Der ging ein Stück auf die Seite und – entkleidete sich wortlos. Da stand er, in seiner einst weißen Unterhose mit blauen Mustern da, bleich, bierbäuchig, auf seiner rosigen Brust kringelten sich paar rötliche Haare. Furchtbar verlegen sprang er in unseren Teich und holte nach und nach die Schornsteinbrocken raus. Die Goldfische tauchten ab.
Ich zog mehrmals um, aber immer bin ich in der Neustadt hängen geblieben. Eine weitere Idylle fand ich in der Prießnitzstraße, Hinterhaus, die Prießnitz schlängelte sich direkt am Haus vorbei. Wenn ich es gemocht hätte, hätte ich aus dem Schlafzimmerfester angeln können. Mit bloßem Auge in dem klarem Wasser und hellsandigem Untergrund konnte man die Forellen vorbeischwimmen sehen. Diese exponierte Lage wurde jedoch zum Verhängnis. August 2002, die Flut verschluckt Teile der Stadt und auch in der Neustadt spielt sich Dramatisches ab. Die Elbe kann das Wasser längst nicht mehr aufnehmen und drückt in die Prießnitz zurück, das Grundwasser drückt nach oben. Am Morgen sehe ich, wie die Nachbarn ringsherum mit Sandsäcken anrücken. Kurzer Zeit später wohne ich nicht mehr am Bach, sondern an einem See. Das Haus wo ich wohne steht als einziges etwas höher als die anderen, ich fühle mich sicher im ersten Stock. Gleich gegenüber befand sich eine Schrebergartenanlage, die mir soviel angenehme Grillgerüche und filmreife Szenen der Familiengartenfeste, oder des rührigen Umtriebs im Frühjahr bot. Die Lauben standen im Wasser, am Abend bis zu den Fenstern hoch. Am frühen Morgen sind sie teilweise einfach weg! Ich kann es nicht fassen, nur die Dächer schauen aus dem Fenster. Jetzt bin ich ein Leuchtturmwärter und muss mit ansehen, wie die Nachbarn ihr Hab und Gut verlieren. Viele geben den Kampf auf, retten mit vereinten Kräften das Wichtigste aus den Wohnungen und ziehen ab. Der Strom ist längst weg, meine Freundin, die im Trockenen wohnt versorgt mich morgens mit Kaffee in der Thermoskanne, abends darf ich bei ihr duschen. Meinen Wachposten wage ich nicht zu verlassen. Abends nach dem Duschen gehe ich nach Hause, biege in meine Straße ab und entdecke eine faszinierende Stimmung. Es ist sehr dunkel, kein Straßenlicht und kein Licht aus den Wohnungen. Die Nachbarn stellten ihre Tische und Stühle auf die Straße, viele Kerzen brannten auf den Tischen, die Leute teilten ihr Essen und ihr gemeinsames Schicksal in einer feierlichen Stimmung miteinander. Es war ein leises Murmeln zu hören, obwohl recht viele so zusammen saßen. Als das Wasser abzog blieb der Schlamm. Die gemeinsamen Aufräumarbeiten begannen, wir halfen alle mit. Tonnenweise wurde das verschlammte Zeug aus den Kellern und Wohnungen zu den bereit gestellten Containern geschleppt. Viele entrümpelten sich auf diese Weise kostenlos. Mein großer Verlust war der im Keller deponierter und gut gefühlter Gefrierschrank. Besonders hart traf mich, dass ich mein Weinvorrat, waren paar gute Tröpfchen dabei, auch entsorgen musste. Der Weißwein sah irgendwie trüb aus. Froh bin ich immer noch über meine zahlreichen Geschäftsakten, die ich vorschriftsmäßig noch hätte paar Jahre bunkern müssen, jetzt bin ich die Altlast los geworden. Für alle Fälle wurden die schlammigen Ordner, die auf das Doppelte angeschwollen waren und sehr schwer wurden, fotografiert.
Als ich hier, in der Timaeusstrasse einzog wohnten im Erdgeschoß links und rechts, zwei alte, rüstige Damen. An einem Tag stand die Dame links auf ihrem Balkon und berichtete mir, dass ihre Nachbarin schon ganz schön plämm, plämm geworden ist. Kurz darauf traf ich die rechte Dame, die mir über die Demenz der Alten von links berichtete. Die Linke gab mal zu, dass sie schon etwas mit dem Goppe hatte und deshalb so stramm spazieren gehe, die Luft tut dem Gehirne gut, sagte ihr der Hausarzt. Unermüdlich und mit zäher Ausdauer lief sie wenigstens mal um den Block. Wie oft musste ich mir geduldig ein und die gleichen Geschichten anhören, gespickt mit einem Satz aus irgendeinem Gedicht. Wenn es windig war, gab sie von sich: der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Am Briefkasten angetroffen, lachte sie mich an, kichernd mit roten Bäckchen sagte sie, dass ihr Liebster, der Böser, mal wieder nicht geschrieben hätte. Eines Tages traf ich ihre Verwandten im Hausflur, sie holten ihre Sachen, zuvor wurde sie selbst zu ihnen abgeholt, sie war nicht mehr in der Lage sich selbst zu versorgen.
Die rechte Dame wurde immer gebrechlicher, sie weigerte sich jedoch standhaft in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Es wurde dramatisch, sie schrie manchmal so laut, dass wir Nachbarn den Notarzt riefen. Der musste jedoch erst die Polizei holen, da sie nicht aufmachte. Die Polizei brach über den Balkon in die Wohnung ein, nun konnte der Notarzt ihr helfen. Ich glaube, dass sie geistig nicht mehr in der Lage war für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und verweigerte jegliche Hilfe. Ohne ihre Unterschrift konnte man sie ja nicht mit Gewalt in ein Heim bringen. So liegt sie heute immer noch in ihrer Wohnung. Sie schreit nicht mehr. Ruhig gestellt wird sie dreimal täglich von einem Pflegedienst versorgt, das Essen auf Rädern holt die Schwester mit rein. Inzwischen in der Wohnung der linken Dame zog ein junges Pärchen ein und wir bekamen so ein zweites Baby in unserem Haus. Oben links im Dachgeschoß kam neulich das dritte Baby auf die Welt. Der Kreislauf des Lebens.
Karolina
SzeneNeustadt - 27. Apr, 10:23
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